Das Beste im Menschen

Karl Marc
9 min readJan 23, 2020

Ann verlässt den Bauch ihrer Mutter im August 94. Sie kommt aus dem Bauch in ein leistungsorientiertes Elternhaus. Und sie kommt mit Sauerstoffmangel, Herzfehler und einer Rechenschwäche.

Weil die Eltern es wünschen beginnt sie Leistungssport im Verein. Das – den Eltern zufolge — fördert ihre Gesundheit. Anns Sauerstoffmangel ist auch der Eltern Sorge. Der Furcht vor möglichen Schwächen ihrer Tochter, soll dieselbe mit Leistung begegnen. Das glauben die Eltern. Vielleicht auch wissen sie es.

Noch vor der Einschulung beherrscht Ann das Lesen und besucht, da ihre Eltern es wünschen, Förderprogramme. Erneut um besser zu sein als sie ist. Die Eltern wünschen sich für ihre Tochter ein leichtes Leben, weshalb sie Ihre Tochter vor einem schweren Leben zu schützen versuchen. Ann wird anfangen zu zu denken, dass sie nicht gut genug ist — immer wenn etwas unerwartet schlecht ausgeht, findet Ann die Schuld bei sich.

In der Schule fällt auf, dass sie nicht musikalisch ist. Aufgrund der Rechenschwäche, die man kryptisch auch Dyskalkulie nennt, ist sie weder rhythmisch noch kann sie Takt zählen. In Heimatkunde lernt sie die Landkarte auswendig, da Dyskalkulanten räumliches Vorstellungsvermögen fehlt.

In Mathematik hält sie die Grundschulzeit über die Eins. Wobei sie nicht rechnet, sie lernt Aufgaben auswendig. Alle Aufgaben.

Ab der fünften Klasse geht Ann auf das Gymnasium. Sie hat Ehrgeiz, um dieselben Ergebnisse wie andere zu erzielen. Anders als Freunde muss Ann nachmittags lernen. Für Hausaufgaben, die ihre Freunde in den Pausen machen, benötigt sie Stunden. Sie formuliert Englisch-Hausaufgaben anderer und erhält von ihnen Mathe-Lösungen. Wenn Lehrer die Rechenwege erfragen, schweigt sie bis andere antworten müssen oder wird, wenn die Lehrer hart bleiben, hyperaktiv. Ihre Verhaltens-Note weicht vom Durchschnitt ab. Ann bemerkt das sie anders ist, weiß aber nicht wie sie das ausdrücken und mit wem sie darüber sprechen soll.

Bei ihrem Bruder diagnostiziert man zu dieser Zeit Legasthenie. Eine Leseschwäche, die auch beim Onkel und dessen Tochter auffällt. Eine zusätzliche Belastung für das leistungsorientierte Elternhaus.

Ann wird in die sechste Klasse versetzt. Taschenrechner und Geografie sind neu. In Geografie fällt ihr auf Landkarten die Orientierung schwer. In Kunst kann sie Räumlichkeit nicht zeichnen. In ihrem Kopf entstehen Bilder, die sie nicht wie andere aufs Papier bringen kann. Das Gehirn eines Dyskakulanten hat kein räumliches Vorstellungsvermögen, kann Räumlichkeit nicht auf Papier übersetzen. Lineal und Dreieck sind für Ann sinnlos, keine Hilfsmittel. Als sie in Hauswirtschaft einen dreidimensionalen Raum zeichnet, erhält sie dafür eine Sechs. Heute zeichnet sie digital — auch dreidimensional.

In Mathematik, Biologie und Chemie werden die Rechnungen komplexer. In Geografie ist die Weltkarte eine Herausforderung. Bisher hatte sie auf der Deutschlandkarte Bundesländer nach Formen auswendig gelernt. Doch die Weltkarte überfordert sie — schon Polen und Tschechien sind schwer zu finden. Sie weiß dass Russland das größte zusammenhängende “Ding” ist. In Mathematik, Biologie und Chemie erhält sie zu Ende des Schuljahres ein “befriedigend”. Ihr Lernpensum erhöht sich drastisch. Ihre Eltern streichen den Sport, in der Hoffnung den Leistungsabfall zu beheben.

Ihre Mutter wird — aufgrund der Legasthenie ihres Bruders — Leiterin einer Selbsthilfegruppe. Wodurch sie später zur Vorsitzenden eines Verbandes für Menschen mit Legasthenie wird. Um die Mutter zu unterstützen, liest sich Ann in das Thema ein. Sie will ihrem Bruder und ihrer Mutter helfen und sich an der Aufklärungsarbeit für Informationsabende beteiligen, weil ihre Mutter nicht gerne alleine vor Fremden spricht. Sie hält als Schwester eines legasthenen Bruders Vorträge über ihre Erfahrungen mit ihm.

Wenn im Unterricht Seitenzahlen genannt werden, damit die Schüler ihre Bücher entsprechend aufschlagen, fragen die Lehrer Ann oft, warum sie so lange blättert. Ihre Antwort lautet dann, dass sie die Zahl vergessen hat. Die Lehrer schreiben die Zahl an die Tafel. Aber auch das hilft Ann nicht. Also bringt Ann, um die Situation zu umgehen, keine Schulbücher mehr mit zur Schule.

Die sechste Klasse des Gymnasiums muss Ann wiederholen. Sie lernt wie zuvor auswendig was sich auswendig lernen lässt und erhält daraufhin ein Einser-Zeugnis. Die siebte Klasse bietet nicht viel Neues. In der Achten muss sie einen Leistungskurs wählen. Das kleinste Übel für sie ist Chemie. Erstmals beginnen Schulkameraden sie zu mobben für das was sie nicht kann — Zahlen.

Haben Mädchen Rechenschwächen, halten das viele für normal aber nicht für Dyskalkulie. Die Erwägung sich einer Diagnose zu unterziehen, verzögert sich. Die Erleichterung nicht dumm zu sein, ebenfalls. Legasthenie taucht statistisch häufiger bei Jungen auf, denen man eine unleserliche Handschrift eher verzeiht, wodurch Schreibschwächen Diagnosen sich gleichermaßen verzögern. In Anns Fall dauert die Feststellung der Dyskalkulie darum 20 Jahre. Man sagt ihr lange, sie sei ein Mädchen und das es in der Natur der Mädchen läge, dass diese Probleme mit Naturwissenschaften haben. Die sich wiederholende Annahme manifestiert sich in Ann: Mädchen können keine Zahlen.

Nachdem das Mobbing am Gymnasium Überhand nimmt, die Eltern zunächst keinen Schulwechsel billigen wollen, Ann sich aber bei ihnen durchsetzt, wechselt sie in die neunte Klasse einer Mittelschule. Doch in der neuen Schule wird sie wieder gemobbt. Dieses Mal weil sie vom Gymnasium kommt, von der Achten direkt in die neunte Klasse kommt — das missfällt den Mitschülern.

Ihre Noten werden dennoch besser, außer die Mathematiknote. In der Sportklasse ist sie das einzige Mädchen. Man klaut ihre Klamotten, ihre Mathebücher. „Die brauchst du doch nicht“, heißt es boshaft. Ihre Freunde sind räumlich andernorts. Ann muss sich selber helfen. Aufgrund des stetigen Mobbings mancher Mitschüler, distanzieren sich immer mehr Klassenkameraden und erstmals auch Freunde von ihr. Sie erträgt die Situation in dem Glaube, dass das richtige Leben erst nach der Schule beginnt. Das man Mathe, Geografie und viele andere Inhalte dafür nicht braucht. Sie glaubt an eine bessere Zukunft für ihr Leben. Sie glaubt dass sie anderen helfen kann. Sie glaubt an das Beste in jedem und das jeder eine zweite Chance verdient.

Eine einzige Freundschaft aus dieser Zeit überlebt: Die zu jenem Jungen, den sie später ihren Partner nennt. Er weiß nichts von ihrem Schicksal, der Dyskalkulie, nichts vom Mobbing oder dem Anspruch der Eltern. Er geht auf eine andere Schule. Sie treffen sich an den Wochenenden. Sein Steckenpferd: Mathematik. Er versucht ihr alles zu erklären. Sie fragt ihn bei Rechnungen nach seinem Lösungsweg, weil sie verstehen will. Er sagt, die mache er im Kopf.

Ann fährt zusammen mit ihrer Mutter auf den Kongress des Landesverbandes für Legastheniker nach Erfurt und lernt die Gründungsmitglieder der Jungen Aktiven Legastheniker und Menschen mit Dyskalkulie kennen. Der Bundesverband für Legasthenie (BVL) will ein Summer-Camp für Menschen mit Handicaps aus ganz Europa auf Malta organisieren. Ann begleitet ihre Mutter.

Auf Malta spricht sie erstmals mit Betroffenen über ihre Probleme mit Zahlen — das erste Mal hört man ihr dabei zu. Zum ersten Mal fragt man die richtigen Fragen und das erste Mal findet Ann Worte die die Probleme beschreiben die sie erlebt. Man rät ihr zu einem Test, erstmals und dringend.

Für die Reise nach Malta muss sie alleine von Leipzig nach Frankfurter fliegen, um von dort Richtung Malta zu kommen. Der erste Flug für Ann. Alle wichtigen Informationen bestehen an diesem Tag aus Zahlen. Ihr Freund bringt sie zum Leipziger Flughafen. Eine Security-Mann in Frankfurt hilft. Er bringt sie zum Gate. Sie wartet fünf Stunden auf ihren Flug. Sie ist immer pünktlich oder wie sie sagt: Lieber eine Stunde früher da, als fünf Minuten zu spät.

Zu diesem Zeitpunkt trägt sie eine Armbanduhr. Klassisch mit Zeigern und ohne Zahlen. Die kann sie nicht lesen. Sie trägt die Uhr um eine Uhr zu tragen. Wenn jemand nach der Zeit fragt, antwortet sie, “guck selber drauf” und gibt sich beschäftigt.

Wenn sie mit der Bahn reist, bringen die Eltern sie zum Bahnhof. Sie plant stets eine Stunde vor Abfahrt am Bahnhof zu sein. Sie sagt, weil sie noch in die Bahnhofsbuchhandlung will. Damit ihr genügend Zeit bleibt und keiner Fragen stellt. In Leipzig holt sie stets ihre Oma ab. Weiterführende Züge merkt sie sich anhand der Gleise, nicht der Zahlen. Ihre Welt bricht zusammen, wenn ein Zug spontan an einem anderen Gleis abfährt. Dann muss sie Menschen fragen, alle Text-Anzeigen an jedem Gleis lesen, um die falschen Gleise auszuschließen und das Richtige zu finden.

Auf Malta erzählt sie von ihren Reise-Erlebnissen in Frankfurt. Man rät ihr sich testen zu lassen. Ann hat Angst. Vor der Möglichkeit, dass man bei ihr eine Rechenschwäche diagnostiziert.

Nach Malta erzählt sie ihrer Mutter von den Gesprächen mit Betroffenen aus dem Camp. Von Mädchen wie Jungen die nicht können was auch sie nicht kann. Sie erklärt ihrer Mutter erstmals ihre schlechten Noten. Die Mutter glaubt nicht. Ann glaubt ihrer Mutter.

Eines der Gründungsmitglieder der Jungen Aktiven bleibt beharrlich, empfiehlt Ann weiterhin den Test, um zu erkennen dass sie nicht dumm ist. Die Beharrlichkeit nimmt ihr die Angst vor dem Ergebnis, vor der Erkenntnis. Sie lässt sich testen. Ohne ihre Eltern. Die Familie ihres Freundes finanziert den Test.

Der Gedanke dumm zu sein kam durch die Schule, durch Lehrer die behaupten, dass sie als Mädchen Dinge nicht könne. Das Gleiche geschieht durch die Jungs, die sie als Mädchen für zu dumm für Mathematik halten. Anns Glaube ist Ergebnis der Annahmen anderer.

Im Duden-Institut macht sie den Test. Sie besteht den Test nicht und erhält die Diagnose zur Dyskalkulie mündlich vorab. Ihr Freund glaubt nicht an das Diagnoseergebnis. Andere Menschen auch nicht. Eher daran, dass sie Mädchen ist und zu faul Zahlen zu verstehen. Ann ist zerrissen.

Dabei geht es nicht nur um Mathematik. Es ist der Alltag — Bezahlen mit Geld, Zeit organisieren und einschätzen, einkaufen, Wechselgeld, Orientierung oder Uhrzeiten lesen. Ann will oft zu viel für zu wenig Geld einkaufen.

Das offizielle Ergebnis kommt 14 Tage später. Inzwischen macht Ann eine Ausbildung zur Erzieherin. Ein positives Ergebnis, sprich die Bestätigung der Dyskalkulie wäre eine Erleichterung — einerseits. Andererseits ist Angst in ihr, die Ergebnisse mit anderen zu teilen. Angst davor gegenüber anderen Nachteilsausgleich zu erhalten, erleben, das andere denken könnten, dass sie bevorteilt würde. Sie hat den Ärger mancher Eltern und Mitschüler gegenüber legasthenen Menschen beobachtet. Zudem erklären manche Menschen ihr, dass es Dyskalkulie nicht gibt. Die Forschung zur Dyskalkulie ist noch jung im Vergleich zu der der Legasthenie. Es gibt Menschen, die Heilung in Tabletten-Form noch heute erfolgreich verkaufen. Wie Pillen gegen Homosexualität.

Ann wird krank. Ihre Herzkrankheit holt sie wieder ein. Welche genau weiß keiner. Sie kippt häufiger um. Eigentlich ihr Leben lang schon. Mit dreizehn bekommt sie einen Herzkatheter. Für die Ärzte war ihre Gesundheit damit einst wieder hergestellt. Alle Ärzte attestierten ihr vormals Gesundheit. Und das alles andere Einbildung sei. Das glaubt sie bzw. sie glaubt, dass sie zu viel mache. Sie findet die Schuld bei sich. Das vielleicht das Mobbing eine belastende Rolle spielt aber alles wieder vergeht. Sie versucht nicht mehr daran zu denken, dass etwas mit ihrem Herz nicht stimmt. Sie will glauben das sie gesund ist.

Während der Ausbildung kippt sie häufiger um. Es folgt die Diagnose, dass der Leistungssport und der einstige Sauerstoffmangel im Laufe der Zeit zu drei Herzfehlern geführt haben — ein zu schneller, manchmal ein zu langsamer Herzrhythmus und eine zu lange Pause. Hin und wieder schlägt darum ihr Herz kurz nicht. Sie wird dann kurz bewusstlos. Normal wacht sie von alleine wieder auf oder stürzt kurz, wie sie selbst es beschreibt: Kurz stürzen. Doch an einem Tag in jenem Sommer wacht sie morgens auf, redet wirr, ihr Herz rast, man bringt sie ins Krankenhaus. Die Geräte schlagen in der Nacht Alarm. Sie wacht nicht mehr auf. Am morgen erzählen ihr die Ärzte von einer Reanimation. Eine Woche später lebt sie mit einem Herzschrittmacher. Wäre sie zuhause geblieben, wäre sie tot.

Aufgrund der Herzgeschichte und der Abwesenheit während der Ausbildung verweigert man ihr den Abschluss. Sie kann die Facharbeit nicht abgeben und die Prüfung nicht mitschreiben. Ann erhält kein Fachabitur und kein Ausbildungszeugnis. Sie wird keine Erzieherin. Das ist was sie wollte: anderen helfen, das schwere Leben zu verhindern.

Man sagt ihr, nach einer Reha kann sie den Abschluss nachmachen. Nach langer Wartezeit macht sie die Reha. Sie fragt danach erneut bei der Schule an. Die verweigert ihr den Abschluss der Ausbildung aufgrund des Krankheitsbildes weiterhin. Sie versucht sich an anderen Schulen, doch alle schätzen die Gefahr eines Herzschrittmachers gleich ein. Niemand will das Risiko tragen, das Ann auf der Arbeit mit Kindern ihr Bewusstsein verliert.

Sie bekommt einen halbjährigen Rheumaschub.

Der Herzschrittmacher ist nun zwei Jahre in ihr. Sie hat Freunde verloren, weil die nicht klarkommen auf ihren kurzen Tod, die Rechenschwäche und den Herzschrittmacher. Viele wissen nicht wie sie mit Ann umgehen sollen. Zwei Freundinnen und ihr Freund sind geblieben. Viele andere verschwinden langsam aus ihrem Leben. Zunächst gibt es Nachrichten, Besuche im Krankenhaus. Doch dann lassen die Nachrichten nach, die Antworten und die Besuche auch.

Sie arbeitet derzeit als 450 Euro-Kraft bei Subway. Dort weiß man mit ihr umzugehen. Sie möchte eine Zeit Berufspraxis sammeln. Sie überlegt zu studieren. Sie wäre gern Bibliothekarin. Doch dann hätte sie ein Semester Statistik. Alternativ möchte sie noch immer Erzieherin werden. Eine eigene Kita leiten ist ein Traum.

Sie überlegt was sie für Menschen mit Legasthenie und Dyskalkulie machen kann. Am liebsten Aufklärungsarbeit, damit beispielsweise mehr Lehrer und Eltern wissen wie alles ist, um besser helfen und früher erkennen zu können. Dass Lehrern und Erziehern das Thema nicht wahlfrei sondern verpflichtend vermittelt wird, ist ihr ein Anliegen. Damit alle die, die Kinder betreuen zukünftig noch sensibler werden. Damit dank frühzeitiger Diagnosen Kindern ein schweres Leben erspart wird.

Betroffenen Familien möchte sie eines mitgeben: Kinder werden früh verglichen in dieser Gesellschaft. Dabei gibt es kein perfektes Kind, keine perfekte Familie. Wenn man das einmal begreift, ist ein ADHS-Kind, ein Kind im Rollstuhl, jedes Kind gleich viel wert. Das muss diese Gesellschaft noch lernen, sagt sie.

Sie sagt, sowieso kommt alles anders als man denkt. Wichtig findet sie, dass man dem Leben gegenüber flexibel bleibt.

Ann engagiert sich heute bei den Jungen Aktiven. Die Gruppe besteht aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Legasthenie oder Dyskalkulie. Darunter auch Juristen, Bürokaufrauen, Mechaniker oder Promovierende aus ganz Deutschland.

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